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Die letzte Bastion der Unparteilichkeit fällt

Wahlen | Mythos der parteifreien Demokratie in Appenzell bröckelt In den Schweizer Kantonen gewinnen Parteien immer mehr an Einfluss, zuletzt auch in Appenzell Ausserrhoden. Damit stellt sich die Frage, ob das Ausserrhoder Majorzwahlrecht weiterhin zulässig ist – mit Folgen auch für Uri.

Daniel Bochsler

Die beiden Appenzell standen zuletzt noch für einen politischen Mythos: Sie verkörpern die Demokratieidylle, in der die Bürgerinnen und Bürger selber Politik machen, ohne auf Parteien angewiesen zu sein. Und für eine Politik, in der die Persönlichkeit zählt, nicht das Parteibuch. In allen anderen Kantonen sind die Wahlen durch Parteien dominiert, auch in Uri (siehe Box). Das Bundesgericht zollt in seinem jüngsten Urteil zum Mehrheitswahlrecht dieser Appenzeller Eigenheit Respekt. Das gleiche Gericht, das sonst schweizweit das Prinzip der Verhältniswahl in grossen Wahlkreisen verordnet, gewährt Ausserrhoden einen Sonderstatus, weil es die Parteilosen hoch achtet.

Unmissverständliche Warnung

Wie das Bundesgericht ausführt, spreche der ausserordentlich hohe Anteil an in den Kantonsrat gewählten parteiunabhängigen Personen dafür, dass in den kleinen Gemeinden des Kantons Appenzell Ausserrhoden die Zugehörigkeit oder die Nähe der Kandidaten zu einer politischen Gruppierung nicht für alle Wähler von entscheidender Bedeutung sei, «sondern dass viele Wähler vorwiegend Personen wählen, die ihnen persönlich bekannt sind oder die sich innerhalb der Gemeinde besonders engagiert haben ». Und nur deswegen erachtet das Gericht den Majorz weiterhin als zulässig. Das Gleiche dürfte umso mehr für Innerrhoden gelten, wo die Parteien eine noch geringere Rolle spielen. Das Urteil ist als eine unmissverständliche Warnung an die Kantone Graubünden, Schwyz und Uri zu verstehen. In Graubünden wird noch immer nach Majorz gewählt, zumal in sehr ungleich grossen Wahlkreisen. Im Kanton Schwyz hat die SVP eine Volksinitiative für die Wiedereinführung des Majorzes eingereicht, nicht zuletzt um sich gegen die vom Bundesgericht verordnete Wahlreform zu grösseren Wahlkreisen oder einem Doppelproporz (nach Michel Balinski und Friedrich Pukelsheim) zu wehren. Und im Kanton Uri kommt das Mischmodell von Proporzwahlen in den grösseren und Majorzwahlen in den kleineren Wahlkreisen unter die Räder.

Kleine Gemeinden als Spezialfall

Die neueste Wahlstatistik zum Ausserrhoder Kantonsrat zeigt, dass das Bundesgerichtsurteil auch hier Brisanz hat: Der Proporz kommt womöglich schon schneller als angenommen, denn die Bedeutung der Parteien wurde hier bislang deutlich unterschätzt, zumindest was die mittelgrossen Gemeinden angeht. Die Gemeinden sind in Ausserrhoden zugleich auch Wahlkreise für die kantonalen Parlamentswahlen. Demnach bleibt der Mythos der parteifreien Demokratie nur noch in den ganz kleinen Gemeinden bestehen. In den grösseren Ausserrhoder Gemeinden – ab 3000 Einwohnerinnen und Einwohnern (also in Heiden, Teufen und Speicher) – hat dagegen bereits heute die Parteipolitik Einzug gehalten. Vor vier Jahren waren bereits 73 beziehungsweise 74 Prozent der Stimmen in Heiden und Teufen Parteistimmen, 83 Prozent der Stimmen waren es in Speicher. Von einer reinen Personenwahl sind die grösseren Gemeinden weit entfernt, und dort würde sich mit fünf respektive sieben Sitzen auch ein echter Proporz anbieten. Appenzell Ausserrhoden stellt es als einziger Kanton seinen Gemeinden frei, den Wahlmodus (Majorz oder Proporz) selber zu wählen, doch bisher hat nur Herisau zum Proporz gewechselt. Mit Herisau und den drei grössten Gemeinden würden immerhin 35 von 65 Sitzen nach Proporz bestellt.

Erstmals statistisch untermauert

Das Bundesgericht urteilte im Unwissen um die wahren Verhältnisse in Appenzell Ausserrhoden. Es ging von einer viel grösseren Bedeutung der Parteilosen aus: In den 19 Ausserrhoder Gemeinden, die nach Majorz wählen, erzielen die Parteilosen beachtliche 43 Prozent der Sitze, in 14 Gemeinden wurden Parteilose gewählt. Allerdings lagen bis heute aus Appenzell Ausserrhoden keine Statistiken der Wählerstimmen vor, diese haben wir jetzt erstmals recherchiert.

Wählerinnen und Wähler in den drei mittelgrossen Ausserrhoder Gemeinden dürften jetzt zu Recht monieren, das Urteil trage der Situation in den entsprechenden Gemeinden nicht genügend Rechnung: Personenwahlen sind in den mittelgrossen Gemeinden eine Illusion, stattdessen kostet das Majorzwahlrecht vielen Wählern ihre Stimme. Es wäre also nachvollziehbar, wenn einzelne Wahlberechtigte aus den betreffenden Gemeinden bereits mit Blick auf die Kantonsratswahlen im März das Ausserrhoder Wahlrecht erneut anfechten würden, allerdings nicht mit Blick auf die Verhältnisse im Kanton, sondern in den betreffenden Gemeinden.

Drahtseilakt fürs Bundesgericht

Bis heute hat das Bundesgericht in seinen Urteilen zum Wahlrecht der Kantone jeweils die Kantone als Einheit betrachtet, und insbesondere Ungleichheiten zwischen den Wahlkreisen gerügt. Das Gericht müsste nun also die Verhältnisse in einzelnen Gemeinden unter die Lupe nehmen. Für das Gericht wäre dies ein Drahtseilakt. Aus der Urteilsbegründung im Fall des Ausserrhoder Mehrheitswahlrechts lässt sich schliessen, dass die Stimmengleichheit in den drei Gemeinden klar verletzt wird. Infolge der Bedeutung der Parteien in den drei Gemeinden gibt es keine Gründe mehr, am Majorz festzuhalten. Allerdings betrachtete das Bundesgericht bisher jeweils die Gesamtkantone und nicht einzelne Wahlkreise: Wichtig ist vor allem die Gleichheit der Stimmen im gesamten Wahlgebiet, über die Wahlkreise hinweg. Eine Sonderbehandlung von grossen Gemeinden wäre ein Novum. Allerdings ist Ausserrhoden aufgrund seiner Gemeindeautonomie in der Wahlrechtsfrage eine Ausnahme; eine Sonderbehandlung der grossen Gemeinden würde damit der kantonalen Rechtstradition entsprechen. Allerdings würde sich bald die Frage stellen, ob ein allfälliges Proporzverdikt aus Lausanne nicht bald auch auf weitere Gemeinden ausgedehnt werden müsste. Wie sich das Bundesgericht entscheiden würde, ist daher kaum absehbar.

Parteilose im Proporz

In der Diskussion um das Ausserrhoder Wahlrecht kaum beachtet wurde schliesslich die Frage, ob denn parteilose Kandidatinnen und Kandidaten nicht auch im Proporz antreten und gewinnen können. Offenbar macht hier die Kreativität der Gesetzgeber an der Landesgrenze halt. Ein Blick nach Malta, Irland oder Finnland würde sich lohnen. Hier werden die nationalen Parlamente nach Proporz gewählt, allerdings basiert die Stimmabgabe auf Kandidatenstimmen. In allen drei Fällen können auch parteiunabhängige Kandidaten antreten und gewählt werden, und mit einigen Anpassungen an die Schweizer Gepflogenheiten würde ein solches Wahlrecht womöglich auch Ausserrhoden gut anstehen. Wenn sich ein Geldgeber melden sollte, wäre das vielleicht sogar eine Studienreise einer Delegation des Ausserrhoder Kantonsrats wert.

Der Autor ist Politikwissenschaftler am Zentrum für Demokratie Aarau und der Universität Zürich.

Die Grafik illustriert die prozentualen Stimmenanteile der Parteilosen in 18 Urner Gemeinden in Abhängigkeit zur Wahlkreisgrösse (Wahlberechtigte). In Bauen fanden die Wahlen an der Gemeindeversammlung, in Silenen fanden stille Wahlen statt.

GRAFIK: ZVG

Die Gemeinden sind im Kanton Appenzell Ausserrhoden zugleich auch Wahlkreise für die kantonalen Parlamentswahlen. Die Grafik zeigt, dass der Mythos der parteifreien Demokratie nur noch in den ganz kleinen Gemeinden bestehen bleibt.

GRAFIK: ZVG

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